«Mit einer breiteren Palette können wir nur gewinnen.»

The Beauty of Gemina veröffentlichen am 15. Februar 2013 das Akustikalbum «The Myrrh Session». Negative White hat sich mit dem Frontmann Michael Sele über die Herausforderungen der Reinterpretation und die Release-Show unterhalten.

Das etwas gehobenere Szenelokal X-Tra im winterlich kalten Zürich. Michael Sele bestellt sich einen grossen Eistee. Nicht einmal ein halbes Jahr liegt das letzte Interview mit dem hochgewachsenen Musiker mit dem weissen Haarschopf zurück. Doch es ist viel passiert. Eine der intensivsten Phasen in der Bandgeschichte, wie Sele selber sagt.
The Beauty of Gemina waren vergangen Herbst mit der deutschen Band Diary of Dreams auf grosser Akustik-Tour in Deutschland. Danach spielten sie zwei exklusive Shows in der Schweiz (Negative White berichtete). Gleichzeitig wurde Marco Gassner, der Dennis Mungo an der Gitarre ersetzte, in das Gefüge eingearbeitet und man nahm selbstverständlich noch The Myrrh Sessions auf.

Mehr als blosse Akustik

Doch der Reihe nach. Die Rückmeldungen auf die akustischen Adaptionen während der Tour mit Diary of Dreams waren sehr positiv. Selbst wenn die Band nicht als Headliner und das Publikum deshalb nicht primär wegen ihr in die bestuhlten Konzertsäle kamen, so wurde die Leistung meist mit stehender Ovation gewürdigt.

«Dieses Feedback hat uns Mut verliehen. Es gab uns die Bestätigung, dass dieser Schritt zur Akustik richtig war.»

Eine Akustik-CD bedeutet stets ein Wagnis. Gerade deshalb hätten es sich Sele und seine Mitmusiker leicht machen können und es bei der Tour und den beiden Shows in der Schweiz belassen können. Weshalb nahm man die Mühen im Studio auf sich? Sele kontert aber. Es sei früh klar gewesen, dass diese Schaffensphase festgehalten werden sollte.

«Heute wird bei Konzerten ständig mitgeschnitten. Die Resultate findet man einen Tag später auf YouTube. The Beauty of Gemina haben aber den Anspruch an ein qualitatives Produkt. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese Songs festzuhalten. Nicht zuletzt für all jene, die nicht zu den wenigen Shows kommen konnten.»

Das Konzept des Albums war zu Beginn jedoch noch anders. Es sollten bloss rund acht Songs präsentiert werden. Eine kleine Special-EP. Dann nahm die Kreativität überhand und es entstand ein Album mit über einer Stunde Laufzeit. Es ist klar: Michael Sele und seine Mitmusiker sind stolz auf ihr Werk.
Der Stolz ist berechtigt. Die Songs werden auf The Myrrh Sessions nicht bloss «stromfrei» gespielt, sondern wurden richtiggehend neu interpretiert. Auseinander genommen und wieder aufgebaut. Die Musiker schreckten nicht vor Herausforderungen zurück und nahmen sich auch stark elektronischen Songs an. Sele hatte jedoch oft ein gewisse Idee, wie die Adaption am Ende daher kommen sollte. Letzlich seien die Arrangements aber im Team entstanden, meint der charismatische Sänger weiter. Es kam zu Improvisationen, die einer Jam-Session gerecht werden konnten.

«Wir haben rund zwei Wochen gespielt, experimentiert und die Grenzen ausgelotet. Das Album hat einen Live-Charakter, man hört das musikalische Handwerk. Wir haben nicht versucht, die Kanten aus dem Sound zu schleifen. Auf der Scheibe finden sich viele First Takes, also Songs, die während den Aufnahmen bloss einmal gespielt wurden.»

Ein Song sticht speziell heraus: Listening Wind. Das Original stammt von den Talking Heads und wurde 1980 auf dem Album Remain in Light erstmals veröffentlicht. Unumwunden gibt Sele zu, dass er schon immer mal eine solche Cover-Version habe machen wollen. Schon früher habe er verschiedene Anläufe gestartet, denn dieser Song begleite und berühre ihn seit Jahren. Doch Sele fand den Schlüssel nicht, bis ihm diese Akustikphase endlich das Tor öffnete.

«Wie aus dem Nichts stand plötzlich dieser Song so im Raum. Das Akustische hat mir eine neue Sprache gegeben, mit der ich Listening Wind endlich richtig aufnehmen konnte.»

Neben diesem Cover findet sich mit Last Words ein zweites, unveröffentlichtes Stück auf dem Album. Es handelt sich hierbei um einen Track, der ausschliesslich für das Akustische entworfen wurde. Es wird darum keine Rock-Version geben, stellt Sele klar.

Vergleicht man die akustischen Konzerte mit den Rockshows, stellt man gewaltige Unterschiede zwischen diesen Klangwelten fest. Dem Akustischen ist ein intimer Rahmen gegönnt. Es gibt stark reduzierte und ausgesprochen stille Momente. So wird auch The Myrrh Sessions mit dem Slogan „Don’t fear the silence – discover the difference“ beworben. Michael Sele versinkt in seiner Musikwelt:

«Die Dynamik entsteht zwischen diesen ruhigen Momenten, in denen ein einzelner Ton bis in die hintersten Reihen dringt, und den kraftvollen, intensiven Parts. Trotzdem: die Stille ist Teil des Arrangements.»

Während beim sozusagen gewöhnlichen Gemina-Sound die Magie in den Facetten der dicht gewobenen Konstruktionen liegt, so offenbart sie sich bei den akustischen Versionen nicht nur in der Stille, sondern auch im Spannungsbogen innerhalb der Songs. Wieder liegt Stolz in Seles Stimme. Dass die Songs auch funktionieren, wenn Teile davon anders gewichtet werden (also quasi ein neuer Song entsteht), ist für den Songwriter eine wohlige Genugtuung. Sie sei ihm gegönnt.

The Beauty of Gemina beim Soundtrack in Mels, 2012 (Nicola Tröhler)

 

Stilistisch wurden keine Grenzen gezogen. Das mag Szenegänger – The Beauty of Gemina ist nach wie vor in der Gothic-Szene verwurzelt – womöglich vor den Kopf stossen. Doch die Einflüsse von Country bis World Music sind wohltuender Balsam. Diese Genres verleihen Frische und zeigen den alteingesessenen und im bekannten Trott eingrosteten Szenegrössen einen Weg in die Freiheit: das Wagnis.
Was sich hier zeigt, ist das musikalische Know-how der Männer hinter The Beauty of Gemina. Es sind Menschen mit Können, die ihre Instrumente beherrschen und erstmals vollends ausleben können. Der Computer-freie Sound gibt ihnen die Freiheit, nach links und rechts zu schauen, hier und da eine Blume zu pflücken und die Musik damit zu schmücken.

Der grosse Abend im Moods

In wenigen Tagen findet im Zürcher Club Moods das Release-Konzert statt. Es war ein bewusster Entscheid, den die Band zusammen mit dem Co-Veranstalter X-Tra getroffen hat. Man wollte das neue Album nicht wie die Rockshows im X-Tra selber zelebrieren. Schnell lag der renommierte Jazz-Club Moods auf der Hand, der die spezielle Stimmung mit Sicherheit transportieren kann.
Die Besucher, die keine der bisherigen Akustik-Show miterlebt haben, werden über die Dominanz und Wichtigkeit des Klaviers erstaunt sein. Davon ist Michael Sele überzeugt und verspricht:

«Wie die Songs an diesem Abend klingen werden, hängt von unserer Stimmung, dem Gefühl ab. Die Improvisation wird ein wichtiger und überraschender Teil sein.»

Ein Höhepunkt ist mit Sicherheit das Streichertrio. Zwei Violinen und ein Cello, gespielt von den Musikerinnen und dem Musiker, die bereits an den Aufnahmen mitgewirkt haben. Diese Ausgangslage gibt der Umsetzung auf der Bühne einen weiteren Aspekt.

Ein unvollendetes Kapitel

Die Zeit der Akustikkonzerte ist allerdings mit der Release-Show noch nicht beendet. Fünf Auftritte sind für April in Deutschland geplant und auch in der Schweiz will die Band noch zwei bis drei Male mit den akustischen Versionen auftreten.
Dass die Horizonterweiterung durch die akustische Phase früher oder später mit dem ursprünglichen Klangbild verschmelzen wird, bestreitet Sele nicht.

«Mittelfristig werden die beiden Welten mehr und mehr vermischt. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir eine solche Durchmischung umsetzen können. Entweder bauen wir das Akustik-Konzept mit elektronischen Elementen aus oder wir integrieren bewusst Blocks mit akustischen Songs in unsere Rockshows ein.»

Und für den Musiker ist klar:

«Wir können nur gewinnen, wenn unsere Palette grösser wird. Wir haben Fans, die weite Strecken auf sich nehmen, uns hinterher reisen. Da ist es auch spannender, wenn nicht von vornherein klar ist, was einen erwartet.»

Mit einem neuen, wieder rockigen und wavigen Album darf 2014 gerechnet werden.

Fotos vom Akustikkonzert in Mels, 2012: Nicola Tröhler

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