Lea Porcelain – Hymns To The Night

Bild: Janosch Tröhler

Mit «Hymns To The Night» präsentieren Lea Porcelain nicht nur ihr Debüt, sondern legen auch das faszinierendste Album des Jahres vor. Eine Reise nach Augsburg und ins Innere ihres Universums.

In sanften Kurven schlängelt sich die Strasse durch die grünen Hügel. Das Vorderrad schmiegt sich an die Mittellinie. Der Fahrtwind rauscht durchs offene Fenster und Joy Division spielen Love Will Tear Us Apart. Die Reise beginnt.

Die Voralpen ziehen vorbei, verschwinden langsam im Rückspiegel. Die Grenze naht. Die Strasse gleitet fort, noch ein paar hundert Kilometer bis nach Augsburg. Eine gut dreistündige Fahrt. Doch was sind schon drei Stunden eines ganzen Lebens?

 

Zeit ist relativ. Das wusste schon Albert Einstein. Und doch verstehen wir die Zeit nicht. Meist haben wir zu wenig; oder sie will nicht vorbei gehen, als sässe man in einer entmutigenden Physik-Vorlesung.
Aber dann gibt es noch jene Erfahrung zwischen Augenblick und Ewigkeit. Momente, in denen wir jedes Gefühl für die Zeit verlieren. Momente des Staunens, des Mysteriums, der Magie. Das vollkommene Versinken in einer Sache.

Nichts ist seltener als Musik, die dieses Faszinosum zu vertonen vermag. Denn jene Musik wird selbst zur Zeitlosigkeit jenseits aller Kategorisierungen. Sie wird gleichzeitig intim und unnahbar. Es ist eine tollkühne Kunst des Zufalls, die sich jeglicher Konzeption entzieht. Bob Dylans Like A Rolling Stone entstand aus einem mehrseitigen lyrischen Erguss, der später in den unsterblichen Song geformt wurde.

Viele haben versucht, ein Rezept für die ewige Jugend zu finden und sind daran gescheitert. Gerade deshalb müsste man Markus Nikolaus und Julien Bracht als hoffnungslos verlorene Träumer abtun. Unverfroren nennen sie ihre Ambitionen in zeitloser Klangkunst. Doch die Geschichte ist voller verzweifelter und tragischer Helden, deren Mühen und Leiden uns immer wieder in den Bann ziehen.

Andererseits klang das Leiden schon lange nicht mehr so schön wie auf Hymns To The Night von Lea Porcelain, dem musikalischen Kind von Nikolaus und Bracht. Die beiden Männer könnten unterschiedlicher nicht sein: Bracht war ein erfolgreicher Techno-Produzent, der genug von den Partys hatte. Nikolaus, ein bittersüsser Singer-Songwriter, auf der Suche nach neuen Facetten. So verschieden die Herkunft der Musiker sein mag, hat sie das Schicksal – oder eben der Zufall – zusammengebracht. Und der Wille, dieser Welt etwas Bleibendes zu hinterlassen, liess sie verschmelzen wie ein Hochofen.

 

Augsburg. Der Hotelturm ragt über hundert Meter in die Höhe. Zu seinen Füssen erstreckt sich ein lauschiges Parkgelände, und man vergisst, mitten in einer Stadt zu sein. Satte Bässe wummern aus dem Grün – das Modular Festival befindet sich am Samstagnachmittag auf der Zielgeraden.

Drei Bühnen stehen im Freien, eine Clubstage im benachbarten Kongresszentrum. Dazwischen ein kunterbuntes Durcheinander aus Graffiti-Wänden, kleinen Marktständen der lokalen Kreativszene und Food-Corner, die betörenden Düfte versprühen. Sogar ein kleiner Skatepark wurde aufgebaut, in dem sich die BMX- und Brett-Akrobaten in den blauen Himmel stecken. Es ist ein perfekter Sommertag, ein perfekter Festivaltag. Lea Porcelain stehen noch in Frankfurt.

Out Is In eröffnet das Album Hymns To The Night, als stünde eine grosse Schlacht bevor. Unablässig treiben die marschierenden Drums vorwärts. Rund um die Kriegstrommeln beschwören Lea Porcelain eine dunkle Unendlichkeit, in der die Stimme von Nikolaus verloren widerhallt. Out Is In setzt den Ton für die noch folgenden Songs: düster, bedrohlich und unaufhaltsam.

Doch selbst Out Is In vermag nicht auf die überwältigende Dichte vorzubereiten, mit der einen Bones konfrontiert. Das zutiefst melancholische Stück wiegt sich in der Nachdenklichkeit, die so bestechend schön seit The Cure nicht mehr gehört wurde. Die Instrumente greifen derart nahtlos ineinander, dass sie fusionieren und nicht mehr als Individuen im Arrangement stehen, sondern sich in einem liebevollen Akt vereinen und neues Leben schaffen.

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Kaum etwas beschreibt Bones – eigentlich das ganze Album – besser als die Definition des «totalen Sounds» von Greil Marcus: «Du kannst wissen, dass, für dich, ein bestimmtes Wort, ein gewisser Teilsound tief im Innern des Gesamtsounds, das ist, was du hören möchtest; du kannst dir fest vornehmen, alles andere in dem Song beiseite zu schieben in Erwartung des Teils des Songs, den du hören möchtest. Doch das klappt nie.» Tatsächlich kann man Bones unzählige Male hören, doch der Song nutzt sich nicht ab. Er altert nicht, denn jedes Mal entdeckt man eine zuvor ungehörte Facette.

Hymns To The Night gingen eine ganze Reihe von Singles voran. Allesamt waren sie düster und bestechend. So wurden Lea Porcelain – auch von Negative White – zur Speerspitze eines neuen Post Punks hochgeschrieben. Sie seien die wahren Erben von Joy Division. Genau betrachtet ist das eine beinahe dilettantische Verkennung der Tatsachen: Lea Porcelain klingen so viel nach Joy Division wie Bob Dylan nach nach den Stones. Was Lea Porcelain mit dem Post Punk, insbesondere Joy Division, verbindet, ist ein Gefühl von Zeitlosigkeit in der Musik.

Dass sie trotz dieser Verbundenheit und kleinerer Referenzen eben keinen Post Punk zelebrieren, macht das Duo bereits im dritten Song deutlich. A Year From Here beginnt mit einer lieblichen Ukulele, die nach und nach im sich aufbäumenden Schwall elektronischer Wellen untergeht. Ein Stück, das so stark in seiner Sphärenhaftigkeit verweilt, dass man durchaus von einem dunklen Ambient sprechen kann.

Ein paar Stunden später hat sich der Park gefüllt. Die Augsburger Jugend und einige Junggebliebene sitzen sonnenbebrillt unter den Bäumen. Selbstverständlich fehlen die zu einem Festival gehörenden Skurrilitäten nicht: die exzentrischen Hipster, die Edding-Penisse auf den Wangen und die Ganzkörperkostüme. Einer hat sich gar eine Löwenfratze ins Gesicht malen lassen. Es scheint, als sei die Puppenkiste zum Leben erwacht.

Während die Sonne langsam Richtung Horizont sinkt, steigt der Pegel. Die Stimmung wird gelöster, beinahe schon ausgelassen. Auf der grossen Bühne singen The Sensational Skydrunk Heartbeat Orchestra immer wieder eine Zeile: «Our time is running out!»

 

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Warsaw Street, das Lea Porcelain im letzten Herbst als Single präsentierten, ist der Grund für die Joy Division-Vergleiche. Die Drums, die tief-monotone Gitarre, der sonore, leidende Gesang… Tatsächlich klingen sie in Warsaw Street wie eine Art Post Punk 2.0.

Allerdings löst sich diese Idee bereits bei Similar Familiar wieder auf, während sich das Stück selbst in einen schwarzen Abgrund treibt. Ein deprimierendes, aber auch ungemein verlockendes Hörerlebnis. Der Höllenritt in einen finsteren Schlund.

Nur ein einziges Mal brechen Lea Porcelain mit ihrem klanglichen Konzept. White Noise ist eine Piano-Ballade. An sechster Stelle scheint der Song bewusst im Zentrum zu stehen, als wollte die Band nicht überfordern: eine kurze Verschnaufpause. Hier steht erstmals Nikolaus’ Stimme deutlich im Rampenlicht. Insofern bleibt White Noise die einzige Radikalität im Soundgefüge. Die Entscheidung, ob man diesen Fremdkörper im Universum akzeptiert oder nicht, fällt nicht leicht.

 

Mit dem letzten Licht des Tages kommen Lea Porcelain in Augsburg an. Ihr schwarzer Bus zieht einen Anhänger voller Equipment. Sie ahnen noch nicht, welcher Trubel sie im Park erwartet.

Zwei Polizisten beobachten begeistert das wahnwitzige Treiben in der Halfpipe. So entgeht ihnen, wie ein kaum 16-jähriger Bursche mit seiner ebenso jungen Begleitung ins Gebüsch huscht. Seine Augen blitzen verschmitzt, als er hinter den Blättern verschwindet.

Als es schon dunkel wird, singen Gurr von Wallnüssen. Lea Porcelain schleppen ihre Ausrüstung hinter die Clubstage. Danach schauen sie sich Kakkmaddafakka von ihrem Zimmer im Hotelturm aus an.

 

Nach dem balladesken Intermezzo von White Noise kehren Lea Porcelain in die bekannten Gewässer zurück. Doch haben sie neuen Mut gefasst. The Love wird durch einen schleppenden Groove angetrieben. Er dient als roter Faden, während der Song sich immer weiter steigert, um im Refrain dann die volle Wucht zu entfalten.

Dann folgt A Far Away Land, das bereits klanglich einen unendlich weiten Horizont zeichnet. Nikolaus verzichtet praktisch auf jegliche Intonation. Das Monotone ist die Konstante, in welcher der Sänger seine Zeilen fast atemlos ins Mikrophon spukt.

Wenn Bones bereits melancholisch war, ist Remember untröstlich traurig.

«I got the feeling I lost you already» 

Remember ist der Sog, der einen aus dem Moment des Lebens zieht. Alles rundherum verschwimmt und verblasst in der Bedeutungslosigkeit.

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Der entrückte Trance-Zustand von Remember verlängert sich in 12th Of September. Der Song über Nikolaus’ verstorbenen Vater geht auf wie eine zwielichtige Blüte. Die archaischen Trommelschläge verleihen dem Song einen rituellen Charakter, begleitet von den langgezogenen Rufen. Lea Porcelain gehen einer äussert feinen Linie entlang, tanzen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Es ist Musik, die durch Ehrlichkeit entwaffnet.

Überhaupt ist der Sound stets übermächtig gross angelegt. Trotz dieser epochalen Attitüde bleiben die Songs greifbar nah. Trotz der überbordenden Arrangements klingt die Musik organisch. Selbst in Loose Life, dem sperrigsten Stück des Albums. Mit einem gewagten Rhythmus und der psychedelischen Repetitionen im Text erinnert Loose Life entfernt an die frühen Werke von The Beauty of Gemina. Und wie bereits bei A Year From Here verschwinden klassische Strukturen in der Fülle der elektronischen Sphären.

Um Mitternacht muss alles schnell gehen. Knapp fünfzehn Minuten bleiben für den Abbau der Band Carpet und den Aufbau von Lea Porcelain. Der Zeitplan wurde verändert, so dass Lea Porcelain die letzte Band sind, die am gesamten Modular Festival auftreten wird. Es ist keine dankbare Aufgabe. Und natürlich reicht diese Viertelstunde niemals, schon gar nicht für Bracht, Nikolaus und ihre beiden Mitstreiter, die es stets perfekt machen wollen. Sie lassen sich nicht beirren und nehmen sich so viel Zeit, wie sie kriegen können. Denn die Nacht ist noch jung und ihre Hymnen sind noch nicht gespielt.

Irgendwann nach zwei Uhr morgens beladen Lea Porcelain ihren Anhänger wieder. Die Stimmung ist bedrückt. Sie sind nicht glücklich mit dem Auftritt, den sie trotz technischer Probleme und einem unaufmerksamen Publikum ganz passabel gemeistert haben. Doch bei der Qualität kennen sie keine Kompromisse. Sie wollen mit dem Konzert nicht zufrieden sein. Sie können nicht.

Peter Hook, Bassist von Joy Division und New Order, sagte einmal, dass Joy Division sich musikalisch in die Richtung von U2 entwickelt hätten. So verbindet Lea Porcelain und Joy Division ein weiterer Aspekt, der sich im finalen Endlessly manifestiert. Zum Verwechseln ähnlich klingt das deutsche Duo hier. Die glasklare Gitarre führt durch den Song und die Stimme von Nikolaus kann man kaum von jener Bonos unterscheiden.

Die musikalische Verneigung vor U2 ist so gut, dass sie besser ist als das Original. Endlessly ist eine einzige Steigerung. Mit chirurgischer Präzision legen Lea Porcelain Schicht um Schicht aufeinander, bis das Arrangement plötzlich wie ein Vulkan ausbricht. Eine kurze, gewaltige Explosion. Zurück bleibt eine Fassungslosigkeit, gepaart mit Euphorie.

Es ist ein Gefühl, das sowohl für Endlessly im Kleinen wie auch für Hymns To The Night als Ganzes steht. Diese zwölf Songs dauern nur gut 48 Minuten, doch bleibt der Eindruck, ein ganzes Leben in ihrem Universum verbracht zu haben. Leichtes Unbehagen beschleicht einen, weil man sich nicht erklären kann, wie das geschehen konnte. Gleichzeitig spürt man, gerade Zeuge von etwas Ausserordentlichem geworden zu sein. Ein Teil von etwas, das grösser ist als die eigene Existenz. Deshalb, und obwohl Hymns To The Night in der Melancholie wurzelt, bleibt am Ende ein Gefühl der Befreiung.

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