Hinter den Kulissen des Cirque du Soleil

Der Cirque du Soleil gastiert mit der aktuellen Tour «Totem» in Zürich. Die weissen Zelte ragen in den stahlblauen Himmel auf dem Hardturm-Areal. Anders als bei herkömmlichen Zirkussen wird dies aber nicht mit Hilfe von Elefanten bewerkstelligt – hier war viel Manpower erforderlich. Negative White ist am letzten Trainingstag vor der Premiere vor Ort und schaut hinter die Kulissen.

Angereist ist der Cirque du Soleil mit 78 Trucks, auf denen alles transportiert wird, das vor und hinter der Bühne im Einsatz ist. Bei bestem Wetter werden die letzten Aufbauarbeiten in Angriff genommen. Noch ist das Areal ruhig, die 1650 Sitze im Hauptzelt sind leer. Die Bühne ist dem unebenen Gelände angepasst, die Scheinwerfer justiert. Auf der Bühne trainieren gerade fünf Artisten auf zwei Meter hohen Einrädern und wirbeln Schalen durch die Luft. Es ist das letzte Training vor der Zürcher Premiere von «Totem», die uns eine Reise durch die Evolutionsgeschichte der Menschheit verspricht.

Trucks des Cirque du Soleil
78 solcher Trucks transportieren den Cirque du Soleil. Bild: Michelle Brügger

Den Cirque du Soleil verbindet man mit akrobatischen und künstlerischen Darbietungen auf höchstem Niveau. Die Künstler nehmen uns dabei mit auf eine magische Reise voller eindrücklicher visueller Reize und herrlicher Kostüme. Auch wenn sie heute in bequemer Kleidung agieren, bin ich von ihren Darbietungen sehr schnell fasziniert. Alles wirkt so locker und einfach, auch wenn es harte Arbeit bedeutet und alles andere als einfach ist.

Yurong Wu ist eine der fünf Einrad-Artistinnen und erzählt uns, wie sie als junges Kind mit dem Einradfahren begann. Die heute 26-Jährige ist seit vier Jahren teil des Ensembles und ist mit viel Herzblut dabei. Sie lächelt übers ganze Gesicht, als sie vom Gefühl erzählt, auf der Bühne zu sein. Ganz nach dem Lebensgefühl des Cirque du Soleil ist es auch ihr besonders wichtig, dem Publikum ein Stück Magie mitzugeben und sie für eine Weile den Alltag vergessen zu lassen. Auf der Bühne gibt sie 100 Prozent ihrer Energie und Leidenschaft. Das Publikum spornt sie immer wieder von neuem an, ihr Bestes zu geben. Jede Show ist bedeutend für sie und sie ist voller Dankbarkeit für jeden einzelnen Auftritt.

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Yurong Wu, Artistin "Einräder mit Schüsseln" beim Cirque du Soleil
Yurong Wu. Bild: Michelle Brügger

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Auf die Frage wie viel Training in dieser Nummer steckt, antwortet sie: «Meistens trainieren wir ein bis zwei Stunden am Tag. Inklusive Krafttraining um den Körper in Schuss zu halten. In der Woche so ungefähr acht bis zehn Stunden». Die tiefe Anzahl Stunden erstaunt zunächst, aber es ist wie mit allem, das man regelmässig macht: Irgendwann beherrscht man das Erlernte.

So ist das auch bei einer Nummer, für die man rund ein Jahr lang probt, bevor sie das erste Mal aufgeführt wird. Das tägliche Training dient für den Feinschliff und das Aufrechterhalten der erlernten Fertigkeiten.

«Am Anfang beim Cirque du Soleil fühlte mich mich als Akrobatin. Inzwischen bin ich eine Künstlerin.»

— Yurong Wu

Manche Artisten waren hier zu Beginn ihrer Karriere Profis auf ihrem Gebiet, mussten aber lernen, ihre Mimik und Gestik einzusetzen. Bei den Performances werden Geschichten mittels Emotionen transportiert, nicht nur reine akrobatische Elemente vorgeführt. Deshalb vollzog auch Yurong in den vergangenen Jahren den Wandel von der reinen Akrobatin zur Künstlerin. Dies ist eins der Geheimnisse, die den Cirque du Soleil so einzigartig machen.

Ein paar Worte zur Musik

Anders als bei Konzerten oder Musicals könnte eine CD mit den Musikstücken stark von dem abweichen, was man in der Vorstellung hörte. Vom Komponisten wird eine Ursprungsmelodie verfasst, die auf der CD ist. Das Stück muss jedoch Passagen enthalten, die sich von der Liveband nahtlos wiederholen lassen. Dies liegt nicht jedem Komponisten und stellt eine spezielle Herausforderung an ihn dar. Diese Parts sind wichtig, damit während der Show ein Verpatzter wiederholt werden kann, ohne dass es dem Publikum auffällt, weil die Musik zu früh zu Ende ist oder von der Dramaturgie her nicht mehr zur Darbietung passt.

«Totem» begeisterte seit 2010 bereits fünf Millionen Zuschauer

Was die wenigsten wissen oder sehen sind all die Dinge, die im Vorfeld passieren und hinter den Kulissen geschehen. Bevor eine neue Show aufgeführt wird, vergehen rund zwei Jahre. Als erstes arbeiten sie die Story grob aus, skizzieren ein Bühnenbild und entwerfen Kostümideen. Sobald diese Teile definiert sind, beginnt das Casting der Artisten.

Das Ensemble übt rund neun Monate ihre Parts ohne die Kulissen und Kostüme, bevor sie gemeinsam weitere zwei Monate in Montreal trainieren. Jede neue Show wird traditionell zuerst in Montreal aufgeführt, bevor sie weltweit auf Tour gehen. Inklusive dieser Show werden parallel 19 Shows aufgeführt. Acht Shows finden in Vegas statt, die übrigen elf Touren sind über die ganze Welt verteilt.

In dieser Show sind 46 Akrobaten, Darsteller und Musiker aus 19 Ländern auf der Bühne. Unterstützt wird das Ensemble vom engagierten Team aus 72 Technikern und Mitarbeitern.

Einige Artisten übernehmen Parts bei Auftritten anderer Gruppen, sogenannte cues, ohne Teil der Gruppe zu sein. Yurong Wu tritt beispielsweise als Schmetterling beim Duett am statischen Trapez auf. Dies stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, da man für beide Shows trainieren wird.

Duett am statischen Trapez, Cirque du Soleil
Bild: Michelle Brügger

1984 startete der Cirque du Soleil mit 73 Mitarbeitern. In den letzten 34 Jahren ist das Unternehmen enorm gewachsen und beschäftigt am Hauptsitz in Montreal fast 1500 Mitarbeiter. Insgesamt arbeiten heute rund 4000 Personen für sie. 1300 Artisten sind weltweit in allen Shows engagiert.

Es erstaunt nicht, dass sie aus über 50 verschiedenen Ländern stammen und über 25 verschiedene Sprachen sprechen. Die über 100 Berufe lassen mich automatisch ein paar davon in Gedanken aufzählen. Ob ich alle 100 erraten würde? Hätte ich falsche aufgezählt?

Ein Blick hinter die Kulissen

Mindestens ein falscher Beruf wäre bei mir dabei gewesen: Es sind keine Makeup-Artists mit auf Tour. Alle Künstler schminken sich selber, denn ihre Masken nehmen rund eine Stunde in Anspruch. Vor der Tournee lernen alle Artisten, wie sie sich in ihren Charakter verwandeln können und mit der Routine wird auch die dafür benötigte Zeit immer kürzer.

Im Backstage-Bereich werfen wir einen Blick in die Garderobe und treffen die Leiterin der Kostümbildner bei der Arbeit an. Sämtliche Outfits werden in Montreal entworfen und anhand von 3D-Modellen der Artisten passgenau für die Darsteller geschneidert. Auf der Tour werden die 750 Kostüme und Requisiten von Kostümbildnern unterhalten und wenn nötig repariert, angepasst und weiterentwickelt.

Die Kostümbildnerin bei der Arbeit
Bild: Michelle Brügger

Gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter integriert das Kreativteam kontinuierlich Veränderungen in die Darbietung, damit sie sowohl für das Ensemble und die Crew als auch für wiederkehrende Zuschauer während der Tour attraktiv und lebendig bleibt. Dies beschränkt sich nicht nur auf die künstlerischen Komponenten, sondern auch auf Bühnenbild und Technik.

Wartung und Sicherheit

In der Mitte des Bühnenbildes ist ein Weg sichtbar. Dabei handelt es sich um eine hydraulische Brücke, die sich als Gesamtes vor- und zurückbewegen kann. Das technische Team wartet diese Brücke regelmässig – nicht nur, weil sie ein wichtiger Bestandteil der Show ist.

Dem Cirque du Soleil ist die Sicherheit ihres Ensembles und der Zuschauer sehr wichtig. Deshalb halten sie sich an den amerikanischen Sicherheitsstandard «OSHA». Die technische Abteilung führt tägliche Kontrollen aller technischen Elemente durch. Das Team umfasst Beleuchtung, Sound, Rigging, Automatisierung, Requisiten und Bühnentischlerei. Stellen sie bei einer Kontrolle fest, dass etwas nur noch ein oder zwei Shows länger im Einsatz bleiben könnte, wird es direkt ausgetauscht.

Obwohl die Kulisse im Laufe des Abends nicht umgebaut wird, verändert sie sich ständig. Das ovale Gerüst imitiert ein Skelett eines Schildkrötenpanzers, der zu Beginn der Show noch mit einem Tuch mit aufgedrucktem Panzermuster überdeckt ist. Es dient nicht nur als dekoratives Element sondern auch für die Akrobatik und ist deshalb mit rutschfester Oberfläche überzeugen. Mit einem stattlichen Gewicht von rund 1225 kg bildet es einen extremen Gegensatz zum aufblasbaren Schilf, der zuweilen Bühnenelemente und Künstler bis zu deren Einsatz hinter sich verbirgt. Drei Projektoren projizieren die Szenerie auf eine Oberfläche und imitiert so beispielsweise Wasser.

Eigenverantwortung und Unterstützung

Im Hintergrund sind noch eine Vielzahl anderer Mitarbeiter im Einsatz. Der Tour-Service kümmert sich um Reise, Unterkunft, Arbeitsvisen, Versicherungen und Buchhaltung. Drei Köche und der Küchenleiter servieren dem Ensemble und der Crew täglich durchschnittlich 250 Mahlzeiten.

Im Team der künstlerischen Leitung sind nebst Bühnenmeister und Kostümbildner auch noch Assistenten, Trainingsleiter, medizinische Therapeuten. Zwei Spezialisten für Leistungsmedizin erstellen Diagnosen, geben Behandlungsempfehlungen ab, entwickeln Trainingsprogramme, ein ortsansässiger Masseur und Pilates-Trainer, die die Artisten betreuen.

Während des Umzugs von Alicante nach Zürich hatte das Ensemble keine freien Tage. Für die Dauer eines Transfers zur nächsten Stadt sind sie dazu angehalten, sich selbstständig fit zu halten. Sobald die Zelte aufgebaut sind, ist Backstage ist ein Fitness-Bereich eingerichtet, wo sich die Artisten aufwärmen können oder trainieren. In vielen Städten schliesst der Cirque du Soleil zudem einen Deal mit einem Fitnesscenter ab.

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Aliaksei Liubezny, "Russian Bar"
Aliaksei Liubezny Bild: Michelle Brügger

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Wir treffen hier auf Aliaksei Liubezny, einen Artisten des Acts «Russian Bar». Er erzählt uns, wie ihn 2002 Talent Scouts entdeckten und sie ins Trainingscamp nach Montreal einluden. Sechs Monate später wurden sie für die Show «Alégria» engagiert. Für ihn war es wundervoll, es vom Training in die Show geschafft zu haben und mehrmals pro Woche vor Publikum zu performen. Er hält einen Moment inne und meint dann: «Unfassbar. All diese Jahre, die ich das nun schon mache. Immer wieder andere Städte… du lebst dein Leben aus dem Koffer.»

Auf der damaligen Tour lernte er seine Frau kennen, mit der er einen dreieinhalb Jahre alten Sohn hat. Sie sind gemeinsam mit ihm unterwegs. Mehr als zehn Koffer seien es inzwischen, mit denen sie umherreisen. Und je älter das Kind werde, umso mehr Koffer würden es, sagt er.

«Bei einer US-Tour bist du zwar auch immer wieder in anderen Städten, aber es ist noch immer in den USA. In Europa wechselst du mit der Stadt auch in ein anderes Land.»

— Aliaksei Liubezny

Eine Europatournee ist für ihn im Vergleich zu einer US-Tour spezieller. Hier herrsche eine andere Atmosphäre. Das Publikum reagiert in jedem Land anders auf ihre Performance, die Energie verändert sich. Manchmal passen sie ihren Auftritt entsprechend an. In den letzten Monaten gastierten sie in Spanien und haben sich an das heissblütige Temperament der Südländer gewöhnt. Er ist gespannt, wie das Publikum in Zürich auf ihren Auftritt reagiert. Er erwähnt auch Japan, wo die Menschen eher zurückhaltend applaudieren. Sie würden das verstehen, sagt er, diese Menschen jubeln einfach innerlich.

Generell sind die Artisten immer etwas nervös bei einer Premiere. Sie wissen noch nicht, was sie in der neuen Stadt erwartet. Voller Adrenalin betreten sie die Bühne und müssen gleichzeitig eine Show auf hohem Niveau abliefern. Auf tiefem Niveau zu performen komme nicht in Frage. Man müsse diese Emotionen überkommen und gegen die Gefühle kämpfen. Mit jedem Tag lassen diese Emotionen nach und der Auftritt wird wieder zur täglichen Routine.

«Die Emotionen schwappen bei jeder Premiere wieder hoch. Und wenn du dich an die Stadt, die neue Energie und Reaktion des Publikums gewöhnt hast, verschwindet die Nervosität automatisch wieder.»

— Aliaksei Liubezny

Nach der Show «Quidam» im Hallenstadion von 2014 sind wir gespannt, wie «Totem» in der Schweiz ankommt. Ihre Show führen sie in Zürich 48-mal auf, bevor sie Mitte Oktober die Zelte abbauen und ihre Tour durch Deutschland und Österreich fortsetzen.