Ein Bild sagt mehr als 1000 Schreie

In Jerusalem scheint die Luft zu brennen. Der Streit um den Tempelberg, der sowohl für die Juden wie auch für die Muslime ein Heiligtum ist, löst seit Wochen immer wieder einen Flächenbrand der Gewalt aus. Vor allem im Osten von Jerusalem wachsen die Spannungen zwischen Palästinensern und Israelis. Die Situation droht dauernd zu eskalieren und Abir Sultan ist mittendrin.

Wen oder was diese Braut wohl gerade so schüchtern anschaut? (Foto: „Braut“ von Abir Sultan, Bnei Brak)

Meine Hand drückt vorsichtig den kalten, eisernen Türgriff herunter. Die schwere Holztür der Kirche öffnet sich und mein Blick fällt auf eine junge Frau in einem weissen Hochzeitskleid. Vorsichtig hebt sie ihren schüchternen Blick. Mit ihrer rechten Hand hält sie einen kurzen Schleier aus ihrem Gesicht. Ich wünschte, ich könnte sehen, was für eine Szene sich vor ihr abspielt, doch ich kann es nicht. Denn was ich sehe, ist nur die Projektion einer Fotografie, die vor mir auf der Leinwand unterhalb der Orgel erscheint.

Ich verbrachte einen Abend mit einem israelischen Fotografen in Zug, wo er in der City Kirche seine Bilder zeigte. Abir Sultan arbeitet für die European Pressphoto Agency. Seine Bilder werden weltweit in renommierten Zeitungen und Zeitschriften wie die LA Times, New York Times, Le Monde und Stern publiziert. Sultan hat diesen besonderen Moment der jungen Frau mit seiner Kamera in Israel festgehalten.
Die Braut gehört einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde an. Auf ihrer Hochzeits-Zeremonie wartet sie mit den Frauen, währenddem ihr Bräutigam zusammen mit den Männern zur Feier des Tages fröhlich tanzt. Denn den Männern ist es untersagt, die Braut während der Hochzeit anzufassen. Mit seinen Bildern ermöglicht Abir Sultan einen tiefen Einblick in die für uns meist verborgene Welt der jüdisch-orthodoxen Gemeinde in Israel.

Manchmal kann Abir Sultan der Ruhe in den Schweizer Städten gar nicht trauen. Er erzählt mir vom inneren Löwen, der in uns den Überlebensinstinkt sichere. Daher zucke er auch an so manchem Schweizer Bahnhof zusammen, wenn er einen Knall hört, denn dort, wo er als Fotograf arbeitet, kann ein nicht wahrgenommener Knall den nahen Tod bedeuten.

Auf seinen Bildern werden Menschen verhaftet, es wird geheiratet, demonstriert, tanzen Feuer und Rauch – geben sich Verzweiflung und Hoffnung die Hand. Es sei für ihn interessant, in einer Stadt wie Jerusalem zu arbeiten, wo praktisch Mauer an Mauer verschiedenste Religionsgruppen leben und die Situation dauernd zu eskalieren droht.

Der Übersetzer von Abir Sultan ist zugleich ein guter Freund des Fotografen. Er erzählt: «Wenn ich Abir anrufe, geht es oft nur wenige Minuten, bis er mir das Telefon wieder einhängen muss, da gerade wieder etwas Prekäres passiert ist.» Darauf antwortet Abir: «Ich bin 24 Stunden in Alarmbereitschaft.» «Wie reagieren die Menschen in Israel auf dich, wenn du in solch emotionsgeladenen Situationen die Kamera auf sie richtest?» – «Die Menschen fühlen dich, sehen dich. Um zu einem Motiv zu kommen, musst du sie für kurze Zeit ignorieren, damit sie dich anfangen zu ignorieren. So entstehen meine Bilder.» – «Was macht für dich ein gutes Motiv aus?» – «Da muss ein Gefühl in mir ausgelöst werden. Eine Situation muss mich in ihren Bann ziehen.»

Er ist am liebsten mitten drin: Fotograf Abir Sultan. Bild: Hans-Jörg Riwar
Er ist am liebsten mitten drin: Fotograf Abir Sultan. (Foto: Hans-Jörg Riwar)

Während dem Interview sehe ich an Abirs Finger einen Ehering. Da frage ich ihn, ob er denke, dass er durch seinen gefährlichen Beruf seine Frau häufiger anrufe. Abir schmunzelt und meint, er würde sich bei ihr nicht mehr melden als sonst. Seine Frau wisse grundsätzlich, wie er arbeite, dass er sich mit seiner Kamera nicht gerade ins Feuergefecht stelle. Doch sage er ihr nicht immer, in welcher Situation er sich gerade befinde. Dies würde sie nur beunruhigen. Wenn sie in den News von einer Demonstration oder einem Attentat höre, frage sie ihn jedoch manchmal am Abend etwas beunruhigt, ob er dort gewesen sei. Wenn ja, erzähle er ihr dann ein wenig von der Situation.

Nach dem Vortrag über seine Bilder in der City Kirche Zug stehe ich mit Abir Sultan – an eine Säule gelehnt – vor der Kirche. Der Rauch von Abir Sultans Zigarette steigt in den Nachthimmel und er erzählt mir, dass er gelernt habe, einen Schalter im Kopf umzulegen. Er fokussiere sich strikt auf sein Motiv, sonst könne man in so einem Umfeld seinen Job nicht machen. Über diesen Schalter im Kopf spricht er wohl des Öfteren, denn dieses Wort sagt mir der englischsprechende Abir auf Deutsch.